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Frankfurter Rundschau – Die Schlitzer-Story

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Nach geschlagenen vier Monaten und 16 Verhandlungstagen und zig Monaten wird heute das Urteil gegen den „Deutschnationalen“ Patrick W., genannt „Schlitzer“, gesprochen. Das vorläufige Ende der Story um eine armselige braune Existenz zwischen Drogendeals und Gaskammer-Partys.

An fast allen Verhandlungstagen ist er da, der junge Mann im Zuschauerraum. Und wenn er mal nicht da ist, löchert er beim nächsten Termin die Journalisten oder Vertreter der Antifa, was denn alles passiert sei. Er habe den Beginn des Prozesses verfolgt, jetzt wolle er auch wissen, wie die Geschichte ausgehe.

Er könnte sich auch Gerichts-Shows im Fernsehen anschauen. Doch warum sich über fiktive Fälle gruseln, wenn die Realität zuweilen noch erschreckender und absurder ist. Verhandeltes Beispiel böte gar Stoff für etliche Folgen „Lindenstraße“: Mit Schicksalen, Dramen, Streit; mit sozialen Randgruppen und fragwürdigen Sitten; mit Gewalt, Drogen, Waffen, Neonazis, Polizei und Verfassungsschutz. Und mit einem Hauptdarsteller, der als berüchtigter Outlaw das Hinterland aufmischt und eine bunte, obgleich überwiegend braun kolorierte Gefolgschaft um sich schart.

Es ist die Geschichte des „Schlitzers“. So nennt sich Patrick W., mittlerweile 27 Jahre alt und zuletzt wohnhaft in Echzell. Seit Mitte August wird ihm am Landgericht Gießen der Prozess gemacht. An diesem Montag, dem 16. Sitzungstag, fällt Richter Dietwin Johannes Steinbach das Urteil. Sieben Jahre und vier Monate Freiheitsstrafe hatte Staatsanwältin Yvonne Vockert in ihrem Plädoyer vor einer Woche gefordert, W.s Verteidiger Jürgen Häller vier Jahre und fünf Monate.

Davidstern am Galgen

„Schlitzer“ heißt Patrick W., seit er als Jugendlicher einem Migranten ein Messer in den Hals stach, „aus Notwehr“, wie er auch jetzt im Prozess behauptet. Er sei kein Ausländerfeind und kein Judenhasser. Die Duschköpfe an der Decke seines Partyraum habe er bloß montiert, damit sich der Kunstnebel besser verteile.

Seine Tätowierungen, darunter ein Davidstern an einem Galgen, seien zwar Ausdruck einer „gewissen Grundhaltung“, aber nicht verächtlich oder volksverhetzend gemeint. Seinen Kunden, denen er in seinem Tattoo-Studio ähnliche Motive in die Haut tackerte, habe er eingebläut: „Schwimmbäder könnt ihr damit vergessen.“

Binnen eines Jahres entwickelt sich Patrick W. vom Drogen-Erstkonsumenten zum Großdealer, der in dem Geschäft seine Kenntnisse als gelernter Koch anzuwenden weiß und Amphetaminpaste zum Strecken durch den Fleischwolf zwirbelt.

20 Verfahren wieder aufgerollt

Und er ist ein „Waffennarr“. Das sagen Zeugen, und das sagt der psychologische Gutachter, der ihm außerdem eine „narzistische Persönlichkeit“, einen hohen IQ und eine schwierige Kindheit attestiert. Zu Beginn des Prozesses charakterisiert sich Patrick W. selbst als „sehr dominant“, als einen Macher mit unzähligen Freunden und Kontakten auch zu Polizei und Verfassungsschutz.
Doch er wird zunehmend kleinlauter und geständiger. Und er tut sich selbst leid. Sein Leben sei „die absolute Katastrophe“: Haus weg, Job weg, Auto weg, Freunde weg, die Frau neuerdings auch. Patrick W. beginnt zu „babbeln“, meist, wenn irgendwer „zuerst gebabbelt“ hat. Oder wenn neue Beweise aufgetaucht sind, wie der ominöse Waffenkoffer. Er nennt Namen, mehr als 20 Verfahren werden neu aufgenommen.

Die Anhänger des „Schlitzers“, die lange die vorderen Bankreihen an der Panzerglasscheibe besetzt hielten, kommen nicht mehr. In Gießen wird auch ihre Geschichte ans Tageslicht gezerrt.

Die Geschichte von jungen Menschen in der Wetterau, die mehr oder weniger tief im braunen Morast stecken, die Patrick W.s Truppe „Old Brothers“ angehören, in seiner Hofreite „Gaskammer-Partys“ feiern und sich Hakenkreuze, Hitler oder KZ-Szenen tätowieren lassen.

Bei Oma im Gefrierfach

Von jungen Menschen, die sich Drogen „wie Smarties“ (Patrick W.) oder „wie Erdnüsschen“ (Richter Steinbach) einfahren, Kokain in Wurstbüchsen schmuggeln und Amphetamin bei der Oma im Gefrierfach lagern. Von jungen Menschen, die arglos zusehen, wenn mit Maschinenpistolen, Schrotflinten und sonstigem Geschütz auf Zimmerwände oder Autos geballert wird und die Waffen in Tupper-Dosen verstecken.

Und es ist die Geschichte von W.s Nachbarn, die irgendwann genug haben von grölenden Glatzen und kläffenden Kampfhunden nebenan. Als ein Anwohner vom Mob verprügelt wird, gründen Echzeller die „Grätsche gegen Rechtsaußen“. Patrick W. wähnt sich einem „Propagandafeldzug“ ausgesetzt. „Die tun so, als würde ich Kinder fressen und Atombomben im Keller bunkern.“ Er sei nicht der „Obernazi von Hessen“.

An diesem 3. Dezember wird die Geschichte vor Gericht ihr Ende finden. Doch für alle Beteiligten wird sie irgendwie weitergehen. Jener anfangs erwähnte Zuschauer muss sich nun einen neuen Prozess suchen. Oder sich mit TV-Gerichtsshows begnügen.

© Frankfurter Rundschau  3.12.2012

 

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