Leuchtender, stiller Protest
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Frankfurter Rundschau – Leuchtender, stiller Protest

Leuchtender, stiller ProtestVon Meike Kolodziejczyk

Hunderte nehmen in der Wetterau und in Wetzlar an Mahnwachen gegen Rechtsextremismus teil. Viele aus der Friedberger Ditib-Gemeinde kennen das erste Opfer der Anschlagsserie der NSU.

Allein dieses unsägliche Wort. „Döner-Morde“, hebt Recep Kaplan die Stimme, „das ist so vereinfacht“. Und so falsch. Nicht nur, weil unter den bisher bekannten Opfern der rechten Terrorzelle lediglich ein Döner-Laden- Besitzer gewesen sei. Wäre ein deutscher Metzger getötet worden, ist Kaplan sicher, hätte ja auch niemand von „Wurst-Morden“ gesprochen. „Es geht doch um Menschen.“ Einen von ihnen habe er persönlich gekannt. So wie viele aus der Türkisch-Islamischen Ditib-Gemeinde Friedberg Enver Simsek, das erste Todesopfer der Anschlagsserie, kannten.

Etwa 40 sind am Sonntag vor der Moschee zur Mahnwache gekommen. „Dieser braune Terror hat uns sehr bewegt“, so Kaplan. Deswegen sagte der Vorsitzende des Friedberger Ausländerbeirats sofort zu, als ihn die „Grätsche gegen Rechtsaußen“ aus Echzell anrief und fragte, ob die türkische Gemeinde dabei sei. „Wir wollten gemeinsam gegen Rechtsextremismus protestieren.“

Hunderte nehmen an Mahnwachen teil

Gemeinsam mit vielen Menschen, in mehreren Städten in der Wetterau sowie in Wetzlar. Aufgerufen zu dieser Aktion hatten die Grätsche und die Antifaschistische Bildungsinitiative (AntifaBI) – und Hunderte nahmen teil an den Mahnwachen. In Friedberg kamen 50 in der Stadtkirche zusammen, in Florstadt waren es nach dem Gottesdienst sogar 200, so viele, dass die Kerzen bei weitem nicht reichten. Lichter brannten in Butzbach und Wölfersheim. Und in Echzell. Etwa 80 Frauen, Männer und Kinder stehen dort um 5 Uhr an der Kirche. Es ist der Ort der Hauptveranstaltung, und das nicht zufällig. In Echzell-Gettenau wohnt Patrick W., genannt „Schlitzer“, weil er als Jugendlicher einen Migranten niederstach. Seinetwegen hat sich Ende 2009 die Grätsche gegründet.

Er ist die Hauptfigur der „Old Brothers“, einer nach Schätzungen der AntifaBI im Kern etwa 30-köpfigen rechtsextremen Truppe. „Die Wetterau ist immer noch eine rechtsextreme Hochburg in Hessen“, sagt Andreas Balser.

Zentrale Gestalt der Szene

Seit es den wegen Holocaust-Leugnung verurteilten Marcel Wöll, Ex-NPD-Chef in Hessen, von Butzbach in die ostdeutsche Provinz verschlagen hat, ist der „Old Brother“ Patrick W. mehr und mehr zur zentralen Gestalt der Szene geworden. „Old Brother“ hieß auch sein Tätowier-Laden in Wölfersheim, den er auf Druck der Gemeinde räumen musste und seine Aktivitäten ganz in seine Hofreite „Old Brother’s Castle“ verlagerte. Partys wurden dort gefeiert in einem Raum, in dem aus Duschköpfen Kunstnebel waberte. Sogar Live-Sex-Shows soll es im Gaskammer-Ambiente gegeben haben. Nachts grölten W.s Gäste „Sieg-Heil“ und Nazi-Gesänge auf der Straße, Kampfhunde kläfften, Sachen wurden beschädigt, Nachbarn angegriffen.

Seinen Unterhalt bestreitet der 26-Jährige mit Tattoos und Piercings; früher unterhielt er einen Security-Dienst und vertrieb per Internet Textilien mit rassistischen und neonazistischen Aufdrucken. Dabei gehört das „Arier“-T-Shirt, in dem er sich 2010 in einem HR-Beitrag aus seinem Fenster lehnte, zu den harmloseren Stücken. Damals kam das Fernsehen nach Gettenau, weil der rechte Mob einen Nachbarn verprügelt, entkleidet und das Video von W.s Überwachungskamera ins Internet gestellt hatte.

Kürzlich waren wieder Kamerateams da, nur mochte sich W. diesmal nicht mehr äußern. HR, ARD, ZDF, RTL – überall liefen Beiträge über den „Schlitzer“, der am 18. November, just in der Zeit, als die Machenschaften der Zwickauer Neonazis ans Licht kamen, aus dem Knast entlassen wurde. Vier Monate saß er in U-Haft, weil die Polizei bei einer Razzia vier Kilo Amphetamin bei ihm fand. Nun wartet er mit Fußfessel am Knöchel auf seinen Prozess. Weitere Verfahren seien anhängig, teilte die Staatsanwaltschaft Gießen auf FR-Anfrage mit, etwa wegen Volksverhetzung und Körperverletzung.

Kein Grund zur Entwarnung

Die „Old Brothers“ haben W.s Heimkehr zwar rauschend gefeiert, doch mittlerweile höre und sehe man nicht mehr viel von den braunen Kameraden, berichten die Nachbarn. Dennoch sei das kein Grund zur Entwarnung, bloß weil momentan nichts passiere. „Es muss ein Bewusstsein für dieses Problem entstehen“, sagt Dagmar Seib von der Grätsche. Der „Schlitzer“ und Rechtsextremismus überhaupt seien lange genug verharmlost worden.

„Wir haben damals selbst nicht gedacht, dass das Rechtsradikale gewesen sein könnten“, sagt Recep Kaplan. Auch weil in diese Richtung nie ermittelt worden sei, damals, als Enver Simsek 2000 in Nürnberg erschossen wurde. Bevor der Blumenhändler seinen Laden in Schlüchtern eröffnete, lebte er einige Jahre in Friedberg. Nach dem Mord war von der Mafia die Rede, von Schutzgeld, sogar von Drogen. „Einerseits sind wir natürlich erleichtert, dass jetzt endlich die Wahrheit herausgekommen ist“, sagt Kaplan, „andererseits kam es vielen vor, als sei Enver Simsek nach elf Jahren noch einmal gestorben.“

© Frankfurter Rundschau 2010

 

 

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